Live, News, Radio
12.05.2014

Bitte keine Beipackzettel – Liveblogs bei DRadio Wissen

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Das Ziel war klar beim Relaunch von DRadio Wissen: Wir wollten eine aktuelle Morningshow, die unsere Hörer jeden Morgen zuverlässig und unterhaltsam in den Tag bringt. Schaum oder Haase sollte dynamisch sein, Drive haben. Aber da blieb eine große Frage: Was passiert bei dieser Sendung im Netz?

Für DRadio Wissen als digital verbreiteter Sender eine ganz wichtige Frage: Das Netz ist unsere Heimat, ohne überzeugende Webpräsenz ist auch das überzeugendste Sendungskonzept nichts wert.  Klar war: Eine Ankündigung der Sendung war uns zu wenig und machte bei einem Format,  in dem Vieles spontan geschieht, auch wenig Sinn. Eine Zusammenfassung im Nachhinein konnte auch nicht überzeugen: Eine Morningshow am Nachmittag nachlesen? Klingt nach kaltem Kaffee.

Kein Teasing, kein Beipackzettel, was bleibt da noch übrig? Die Antwort lag auf der Hand. Wenn Webportale über aktuelle Ereignisse berichten, setzen sie auf Liveblogs.  Das Mittel der Wahl bei Naturkatastrophen, Champions-League-Finale oder royalen Hochzeiten.

Das Neueste nach oben

Passt ein Live-Blog auch bei einer Morning-Show?  Dafür müssen wir uns erst einmal ansehen, was ein Liveblog ist. Die wichtigste Eigenschaft dieser Darstellungsform: Sie entwickelt sich in Echtzeit. Kein langer allumfassender Text, sondern kurze Posts, die spontan entstehen.  Die Einträge haben einen Zeitstempel, der neueste Post steht immer oben auf der Seite. Wie die meisten anderen Medienhäuser auch, machen wir bei DRadio Wissen kenntlich, wer postet. Typisch ist auch der subjektive Ton des Liveblogs. Jeder Mensch ist anders, jeder Autor im Liveblog auch. Neben Texten kommen im Liveblog von DRadio Wissen als eigenständige Posts oder als Teile eines Postings auch Videos, Tweets und vor allem Audios zum Einsatz. Spannende Gespräche aus der Frühsendung stehen so unmittelbar in Form von Audiozitaten zum Nachhören bereit.  Das Blog aktualisiert sich selbstständig. Optik und Funktion erinnern an soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter. Der große Vorteil dieser Darstellungsform: Sie ist dynamisch, es tut sich etwas auf der Seite.

Zum Erfolg der Liveblogs hat eine Änderung des Nutzungsverhaltens beigetragen. Mehr als die Hälfte der Internetnutzer surfen nicht mehr am Schreibtisch, sondern per Tablet oder Smartphone – in der Straßenbahn, auf dem Sofa, aber mit kleinerem Bildschirm.  Eine Umgebung, in der das sich selbst aktualisierende Liveblog, bei dem der aktuellste Post oben steht, der 10.000-Zeichen-Scrollorgie deutlich überlegen ist.

Safe for Work

Eine andere Form der Webnutzung spielt den Liveblogs ebenfalls in die Karten. Neu ist sie allerdings nicht:  Wir surfen im Büro. Verlässliche Zahlen für diese Nutzung am Arbeitsplatz gibt es nicht. Dass die Zahlen hoch sein müssen, zeigt ein Blick ins Mutterland des Netzes, den USA. Hier hat sich für potenziell anstößige Bilder oder Videos  der Warnhinweis NSFW – kurz für  „Not safe for work“ – eingebürgert. Wer unsicher ist, ob ihm der Chef über die Schulter schaut, sieht sich NSFW-Inhalte lieber in den eigenen vier Wänden als im Großraumbüro an.  Was das mit Liveblogs zu tun hat? Sie sind SFW – auf jeden Fall eher als lange Texte, Videos oder Audios. Am Arbeitsplatz ist es also sicherer, kurz eine Aktualisierung im Liveblog zu scannen, als sich durch die fünfzigteilige Bilderstrecke zum Eurovision-Song-Contest  zu klicken oder die Reportage aus Slaviansk zu lesen.

Alles in allem gibt es also viele Gründe auf Liveblogs zu setzen. Eine Erkenntnis, die viele Medienhäuser gewonnen haben. So hat Focus Online im Januar 2014 Spiegel Online bei den AGOF-Zahlen überholt. Das Erfolgsgeheimnis: ein Liveticker zum Unfall von Michael Schumacher mit ständig wechselnden Überschriften, die von der Suchmaschine Google gefunden wurde und so sehr viele User auf die Webseite von Focus Online zog.

Gerade der Erfolg des Schumacher-Tickers sorgte für viel Kritik am Format des Livetickers. So beklagte Medienjournalist Stefan Niggemeier in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, dass Liveticker die Berichterstattung atemlos machten. Wer die Ticker – etwa zum Fall Hoeneß oder zum Skiunfall Michael Schumachers – verfolge, sei danach selten schlauer. Seiner Meinung nach diene die Form vielmehr dazu, Halbwahrheiten und Spekulationen zu verbreiten.

Mehr Fakten, weniger Meinung 

Allerdings findet auch Stefan Niggemeier zum Ende seines Textes lobende Worte für das Format „Der Morgen@Spiegel Online“ – einer „Art getickerter Radio-Morningshow“. Klar ist: Der Eindruck täuscht, dass Liveticker nur dann erfolgreich sind, wenn sich die Ereignisse überschlagen oder sie Themen verhandeln, die stumpfe Klickimpulse bedienen. Neil Thurmann und Anna Walters haben sich in einer Studie für die Journalism School der City University London angesehen, welche Liveblogs im Onlineangebot des britischen Guardian besonders gut funktionieren. Das Ergebnis: Blogs zu Themen wie News und Public Affairs sind beim Guardian deutlich erfolgreicher als solche zu Sport oder soften Themen.

Thurman und Walters haben auch untersucht, wie User auf Liveblogs reagieren: Viele Nutzer gaben dabei an, dass Liveblogs ihrer Meinung nach mehr faktenbasiert und weniger stark meinungsgetrieben seien. Außerdem machten die beiden Forscher einen entscheidenden Vorteil aus: mehr Transparenz.  Journalisten, die einen Liveblog füllen, legen ihre Quellen offen. Sie binden Tweets und Videos ein und verlinken zu Artikeln außerhalb des eigenen Angebots.  Außerdem posten sie die Reaktionen der User. Die Kundschaft wird so zu einem Teil des eigenen Angebots. Auch Fehler lassen sich einfacher korrigieren, den Faktencheck liefern die User des Blogs gratis.

Was passiert nach der Sendung? 

Nach knapp drei Monaten haben wir bei DRadio Wissen einige Erfahrungen mit Liveblogs gemacht.  Und auch einige Schwierigkeiten des Formats ausgemacht. So entsteht für die Frühsendung Schaum oder Haase nur noch ein langes Blog und nicht mehr mehrere Artikel zu einzelnen Themen.  Die Folge: Weniger Material, um es in sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook zu posten, weniger Treffer, die in der Suche von Google auftauchen können. Zurzeit fangen wir das auf, indem wir Highlights aus der Frühsendung im Laufe des Tages zusätzlich als Artikel anlegen.  Das Liveblog spielt seine Stärken vor allem während der Livesendung aus. Um das Nachlesen des Blogs etwas zu erleichtern, werden die Posts nach der Sendung chronologisch sortiert. Der erste Post steht dann oben und nicht mehr der neueste.

Ein erstes Zwischenfazit: Liveblogs sind ein spannendes Format, das es schafft, den Charakter und die Dynamik einer Livesendung in den Webauftritt zu übertragen. Für Journalisten sind sie ein anspruchsvolles Format: Sie müssen sehr schnell arbeiten, mit diversen Darstellungsformen (Text, Bild, Video, Audio, Social Media) umgehen und vor allem ihren eigenen Ton finden, um den User bei der Stange zu halten. Eines ist in jedem Fall klar: Der Begriff Internetbegleitung ist mit Liveblogs endgültig ad absurdum geführt worden.