Allgemein, Live, Social Media, Zukunft der Medien
23.05.2016

Vor Ort: Visual Radio bei @franceinter

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Viele reden darüber, unsere öffentlich-rechtlichen KollegInnen bei Radio France – und dort France Inter – machen es seit geraumer Zeit: Ausgewählte Formate und insbesondere die populäre Morgenschiene werden im Radiostudio auch live video-gestreamed. Und das vor Publikum, das mit im Studio sitzt und die Sendung verfolgt. Das Labteam war in Paris, um sich das live anzusehen, wir haben Fotos und Videoclips mitgebracht  – voilà!

Radio als Quasi-Fernsehen? Warum nur? Eine Grundsatzfrage, eine Antwort könnte sein: Weil es (junge) Menschen gibt, die im Netz lieber Videos gucken als „nur“ Audio zu hören. Also, Kameras in ein Radiostudio und los, die BBC macht das schließlich, RTL Info in Belgien SWR3, viele andere weltweit. France Inter bei Radio France auch. Dort ist Visual Radio Teil einer Digitalstrategie, die Formate ausprobiert und externe Plattformen nutzt. Um neue Zielgruppen zu erschließen, um den Werbeeffekt für den Audiocontent zu nutzen. Mehr dazu gleich.

Einen Tag lang haben Labchefs Nicola Balkenhol und Markus Heidmeier und der Autor dieser Zeilen reingeschnuppert bei Radio France. Mit geduldiger Unterstützung von Ute Gaboriau von der „Direction des Relations Institutionnelles et Internationales“, die uns von Abteilung zu Abteilung führte. In den Abteilungen trafen wir von RedakteurIn zu TechnikerIn bis hin zum Innovationschef nette und geduldige KollegInnen, die mit ganz ähnlichen Herausforderungen umgehen.

 

Labchefin Nicola Balkenhol, Ute Gaboriau von Radio France und Lab-Co-Chef Markus Heidmeier im Foyer von Radio France (v.l.n.r.)

Labchefin Nicola Balkenhol, Ute Gaboriau von Radio France und Lab-Co-Chef Markus Heidmeier im Foyer von Radio France (v.l.n.r.)

 

Innovationschef im Schatten des Eiffelturms

Matthieu Beauval @mattbeauv ist Innovationschef bei Radio France. Ressourcenprobleme und Richtungsfragen fordern auch ihn und sein Team heraus, und ähnlich wie wir sagt auch er: Nicht jeder Ausspielweg eignet sich für jedes Publikum. Nachdenken, welche Plattform sich für Sendung/Format eignet, ist angesagt. Social Media Plattformen sinnvoll besetzen. Und aus Matthieus Sicht am Wichtigsten: personalisiertes Radio. Kuratierung und Algorithmen sollen und werden das Radioerlebnis verbessern – egal, auf welchem gewählten Ausspielweg. Matthieu berichtet am Rande auch von einem sehr spannenden Auto-Audio/Radioprojekt: Individuelle Hörzonen im Auto, sogenannte Bubbles. Der Ton des Autoradios wird „transaural“ an den einzelnen Hörer wiedergegeben, und nur diese Person hört diesen Ton in seiner „Bubble“. Der/die FahrerIn hört also Deutschlandfunk, BeifahrerIn Deutschlandradio Kultur, auf der Rückbank ist nur DRadio Wissen hörbar. Faszinierend.

 

Matthieu Beauval @mattbeauv, Innovationschef Radio France

Matthieu Beauval @mattbeauv, Innovationschef Radio France

 

Matthieu Beauval mt Nicola Balkenhol und Markus Heidmeier

Matthieu Beauval mit Nicola Balkenhol und Markus Heidmeier

 

Agile Planung bei Digital/Multimedia Radio France

Agile Planung bei Digital/Multimedia Radio France

 

Blick aus dem Büro von @mattbeauv

Blick aus dem Büro von @mattbeauv

 

 

Visual Radio @franceinter in der Praxis

Die Ausstattung, sehr vereinfacht: ein Radiostudio, Licht, Kameras. Die Kameras sind über ein entsprechendes Hardwaresystem (es gibt mehrere Anbieter auf dem Markt, über das System „Vidigo“ haben wir hier im Blog berichtet) mit einem Bildmischer und dem Tonpult verbunden. Bild und Ton werden über einen Livestream-Server ins Netz gegeben. Die Kameras können manuell geschaltet werden oder aber reagieren automatisch, wenn einer der ModeratorInnen oder Studiogäste ins Mikrofon spricht, die Ansprechsensitivität ist auf ModeratorIn einstellbar.

 

Video-Eindruck eines France Inter Radio/Visual Studios mit Licht, Kameras, Moderatoren/Gästedesk:

 

 

Das Ergebnis im zweiten Clip: der Videolivestream, Blick ins Live-Studio mit Publikum, die Bildmischkabine:

 

Daraus ergibt sich, dass Visual Radio mindestens einen Video-TechnikerIn benötigt und eine/n RedakteurIn, die/der beispielsweise vor und während des Livestreamings Grafiken vorbereitet und platziert und Passagen aus der Live-Show für das Social-Media-Teasing und externe Videoplattformen auswählt. France Inter platziert seine Clips beispielsweise auf YouTube.

Noch während des Livestreams kann man Teaserclips schneiden und auf den Social-Media-Plattformen teilen. France Inter nutzt dazu das browserbasierte SnappyTV. SnappyTV greift den Video-Livestream ab und zwischenspeichert den Stream zur schnellen Bearbeitung im Browser. Passage auswählen, In- und Outpunkt setzen, Clip abspeichern und exportieren, kurze Videodemo, es spricht Colas Zibaut von France Inter:

Die ungeschnittenen, aufgezeichneten Videodateien wurden unterdessen vom Visual-Radio-System auf eigenem Server/Festplatte/SSD gespeichert. Eine weitere Bearbeitung des aufgezeichneten Livestreams/Rohmaterials nach der Produktion benötigt eine weitere Person. Vielleicht möchte man beispielsweise das ganze Interview aus der Sendung konfektionieren, samt Intrografik, sogenannten Bauchbinden (die Grafik am unteren Bildrand mit dem Namen des Interviewpartners), usw.

Aufwand-Nutzen?

Visual Radio ist, um es klar zu schreiben, keine Nebenbei-Produktion, die Anschaffung der benötigten Hardware kostet, für Einarbeitung, Bedienung und Bearbeitung wird zusätzliches Personal benötigt. Lohnt der Aufwand? France Inter hat von desolaten Abrufzahlen bis hin zu beeindruckenden Views alles erlebt. Frankreich ist eine radiohörende Nation, die aber auch Visual Radio goutiert – je nach Content. Hinzu kommt bei France Inter, dass im Studio auch oft genug Live-Gäste und vor allem Radiopersönlichkeiten präsent sind – Menschen also, die man auch im Video sieht/sehen will. Doch auch Telefoninterviews mit unsichtbarem Gast haben je nach Kernaussage gute Abrufe. Hinzu kommt, dass die Reaktion des/der ModeratorIn ja auch eine sehenswerte Aussage sein kann.

Bedenkenswert: Nicht jeder Radio-ModeratorIn/Gast will im Video zu sehen sein – während Andere das unbedingt wollen. Fernsehgestählte PolitikerInnen werden den Videonutzen des Radiointerviews zu schätzen wissen.

Und schließlich: Verändert das Visual Radio das Verhalten von ModeratorInnen und Gästen? Geht die Intimität verloren? Wird der visuelle Eindruck wichtiger als die Aussage?

Studio 221: die Zukunft

Bei Radio France, so unser Eindruck, ist das Verschmelzen von Radio und Fernsehen in vollem Gange. Sichtbares Zeichen: Der Neubau eines kombinierten Fernseh-/Radiostudios für France Info, das uns Olivier Zegna-Rata vorstellte:

Olivier Zegna-Rata von Radio France stellt uns das geplante Fernseh-/Radiostudio vor.

Olivier Zegna-Rata, Directeur Direction des relations Institutionnelles et Internationales bei  Radio France, stellt uns das geplante Fernseh-/Radiostudio vor.